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Auf einer kugeligen Welt, auf der noch keine Nahrungsgarantie herrschte und die verschiedensten Katastrophen die Entwicklung jeglichen Lebens blockierten, lebte Steinzeit-Sally. Sie war genau gleich zufrieden, wie alle anderen Bewohner der Rotsteinhöhle, hinter dem Waldgebiet, am Ende des letzten Flusszipfels der ansonsten karg heiß flimmernden Wüste.

Stalagmiten und Stalagtiten verhinderten den aufrechten Gang der Höhlenwesen und ließen nur einen Slalomdurchgang zwischen Behausung der flachen Steine und engem, von der Natur unbequem angelegtem Ausgang zu. Es gab für niemanden einen Grund glücklicher als andere zu sein und Steinzeit-Sally wusste diese Gleichheit auch zu schätzen, weil sie zu schwach gewesen wäre, Machtergreifern entgegen zu wirken und das höhere Glück derjenigen zu ertragen. Gering gehaltener Ehrgeiz ermöglichte die Gleichberechtigung der Schwachen. Eines Morgens erwachte Sally jedoch aus einem wundersamen Traum. In jenem sah sie sich auf einem hohen, prunkvoll glitzernden Gefährt mit einem Computer in der Hand, mit den Zehenspitzen eine E-Gitarre betreibend, sitzen und doch dem herumtollenden Kleinvolk mit ihren künstlichen Fingernägeln zuwinkend.

Ja, es waren künstliche Fingernägel, die sie in ihrer Vorstellung; nicht aber in ihrer Steinbehausung hatte. Vom Eifer gebannt sprang sie von dem 1,40 m auf 2 Meter Flachstein hoch, um den ganzen lieben, unschuldigen Tag lang alle mit der Idee, der Verkünstlichung der Fingernägel anzunerven. Es wäre ein Fortschritt sonders gleichen, verkündete sie noch abends, als die zur Nahrungssuche verordneten ganztägig Jagenden und Sammelnden mit der üblichen Halbtagesration für alle enttäuscht zurück kamen. Könnte man sich doch endlich besser durch kratzen den Alltagsschwierigkeiten wehren, meinte Sally. Was dies bedeuten sollte und weshalb künstliche Fingernägel besser wären als natürliche, wusste sie jedoch noch nicht so genau, aber sie hatte da irgend etwas im Gespür; obendrein gefiel sie sich im Traum ganz gut mit der kleinen kecken Veränderung ihres Arbeitswerkzeugs.

Doch leider waren die anderen auf das Aufrichtigste, bis in den letzten Winkel ihres guten Willens nach Interesse dafür suchend, derart von der Idee des kollektiven Vernägelns gelangweilt, dass Steinzeit-Sally nichts anderes übrig blieb, als sich von der Gruppe abzusondern, um in einer abgelegenen Nebenhöhle, den Tod - der sich als Stein um sie herum materialisiert hatte - zu betrachten und mit ausgeprägtester Mimik zu schmollen.

Einige behaupteten, Sally wäre nur ihrer Zeit ein wenig voraus, andere erklärten ihre Gedankengewichtungen für zeitlos unwesentlich, aber nichts desto trotz blieb Sally was sie war: die Steinzeit Sally. Und als solche, ließ sie sich die Chance nicht entgehen, durch die einzigartige Gelegenheit eine gehobenere Persönlichkeit, eine elegante Ausgefallenheit zu werden. Einerseits natürlich, um sich im Angriff ihrer peinlichen Schmach die auf gesellschaftlichem Unverständnis gründete zur Wehr und es damit allen zu zeigen; andererseits, um sich durch das Einreden, dass sie niemandem etwas beweisen muss, etwas vorzumachen, was schneller geschehen kann, als diesen Sachverhalt auszuformulieren.

Sie machte sich also ans Werk und versuchte noch in der Nacht bei zunehmendem Mondscheinlicht in der freien Wildnis ihr Glück zu finden. Vor wilden Tieren hatte sie nichts zu befürchten, im Gegenteil, alle Tiere fürchteten sich vor Wesen ihrer Art. Sie probierte es mit Holz, sie versuchte Grashalme an sich zu binden, sie zersägte ein Stück Wellblech und glaubte den Panzer eines Käfers mit Spucke an die Spitzen ihrer Finger kleben zu können. - Nichts funktionierte. Da kam sie endlich auf die einleuchtende Idee, ein starkes, schlagfestes, hartes und vor allem kratzfestes Material zu verwenden. Fünf Stunden später hatte sie die erste Stein-Fingernägel-Hand ihrer kugeligen Welt geschaffen.

(Vielleicht war das auf anderen Welten schon der Fall, wer weiß das schon genau. Sicher war sie sich jedoch darüber, dass kein anderer außer- und innerhalb der Rotsteinhöhle, je solch wunderbar große und kratzfeste Steine an sich gekettet sah, wie sie nun zu tragen pflegte.) Drei Stunden später war die zweite Hand geschmückt und um die Funktionstüchtigkeit und Qualität der Stein-Fingernägel-Hände zu testen, kratzte sie alles an, weiter und fertig. Sie kratzte wo es nur ging. Sie kratzte den Boden. Sie kratzte die Bäume. Sie kratzte Tiere. Sie kratzte auch Steine und kurz vor sie vor vollkommener Zufriedenheit in Ohnmacht fiel, kratzte sie sich selbst.

Als sie wieder aufwachte, fühlte sie sich leicht und frisch, aber mit ihrem neu gewachsenen Selbstbewusstsein und ihrer brandaktuellen Souveränität kamen plagende Gedanken, ihr Vorhaben sich über andere zu stellen nicht wahr werden zu lassen. Großmut und Großzügigkeit, Güte und Friedlichkeit kamen über sie. Ja sie glaubte sogar einen Anflug von Gnade in sich erhebend zu verspüren, was sie aus Gründen der Pietät so flott wie möglich mit Größenrelations-Besinnung bekämpfte. War sie doch nichts weiter, als die kleine, auf einer kugeligen Welt lebende Sally, der schon seit jeher daran gelegen war, für alle eine ausgeglichene Zufriedenheit zu erhalten. Anfangs dachte sie, die Erfindung verheimlichen zu können, aber nachdem sie sich wieder selbst bis zur geistig nicht mehr fassbaren Zufriedenheit kratzte, wusste sie, dass alle dieses Glück erfahren sollten. Jedem sollte es möglich sein, an die Grenzen seines Wohlgefühl heran zu kratzen. Die Vorführung vor versammelten Gleichsprachigen war überwältigend. Nicht alle trauten dem Neuen; doch der Großteil aller Betrachter und Zuhörer war so angetan von der Technik und der Ausstrahlungsveränderung der kleinen Steinzeit-Sally, dass sie nicht umhin konnten sich selbst Stein-Fingernägel-Hände zu basteln.

Steine gab es genug; nur manche mussten sich mit kleineren und andere mit glattoberflächigeren Steinen begnügen. Das hatte wiederum zur Folge, dass sich nicht alle gleich vergnügen konnten. Einige schienen sogar überhaupt nichts für diese Methode zu empfinden. So verflog die anfänglich überschwängliche Freude zugunsten von Missmut und Neid. Die Situation eskalierte und bald nach dem Anfang einiger vereinzelter Konflikte, schlugen alle auf einander ein. Das Stein-Fingernägel-Hand-Kratz-System wurde zu einem Instrument der Gewalt. Zum Schlagmittel umfunktioniert bekamen sie die angewandte Härte nur schlecht in den Griff. Der Fortschritt geriet außer Kontrolle. Des Ausmaßes der Tat bewusst oder unbewusst, fielen sie über einander her und brachten sich gegenseitig um den Funken, den man als Leben in sich trägt. Nur eine war noch lebendig: Steinzeit-Sally.

Sie richtete sich auf, schaute um sich und war froh, dass sie sich tot gestellt hatte.


Fortsetzung auf 100 Matching Punkte




100 Matching-Punkte. Man meldet sich bei einer Partnerbörse an und gerät in einen Pool von Daten und verschwommenen Gesichtern, in dem man sich wie ins kalte Wasser geworfen fühlt. „Kompliment, G0112358 gefällt Ihr Foto!“ Ein erster Satz kann kaum unpersönlicher sein. Man verspürt den Drang, sich gleich wieder abzumelden. Aber halt, vielleicht kommt da ein unerwarteter Ausflug in eine andere Welt auf einen zu? Voller Wortspiele und Metaphern, erzählt der moderne Liebesbrief-Roman „100 Matching-Punkte“ die Geschichte eines Kennenlernens zweier Partnerbörsen-Nutzer, das über einen Austausch von Fabeln erfolgt.


Versionen


Infos

  • Autoren: Olga und Udo Glanz
  • Genre: Moderner Liebesbrief Roman mit Kurzgeschichten
  • Umfang: 114 Seiten
  • Cover: "Unscharfer Amor", Bob Joblin (Original: Hans Baldung Grien, Amor mit dem flammenden Pfeil, um 1530)



Leseprobe: Der faule Paule - Schon wieder ein neues Wesen

Hi Anna, Deine Annahmen sind vollkommen berechtigt. Lehrer sind alle Superhelden, übermenschlich stark und sie haben Nerven wie Drahtseilbündel ;-) Interessant, Du warst mal als Lehrerin tätig? Was machst Du denn gerade als wissenschaftliche Angestellte? Jack the Dripper Pollock finde ich gut (auch wenn er die Technik heimlich bei Max Ernst geklaut hat – wie der behauptet). Zufall gehört zur Kunst. Auch Ideen ent- und bestehen aus Zufälligkeiten...

„Als er noch in der Kruste war.“ – „Gebrauchsanweisungstitel: Das Leben“ Ich mag, wie Du formulierst. Besser gesagt, ich finde es voll Na-mna.

Ods – Du bist aus Estland? Wollte schon immer die Eremitage besuchen. Da liegt Estland doch auf dem Weg, oder? Du sprichst fünf Sprachen. Das ist auch sehr beeindruckend.

Liebe Grüße, Michael P.S.: Weq war enttäuscht, dass Lulli, Nulli und Nuschel weg waren. Er wollte sich gerade auf den Weg machen, als ein „fauler Paule“ an ihm vorbei fuhr. Das war eine Persönlichkeit. (Bei dieser Geschichte ist mir entfallen, welche Art von Wesen bzw. Tier Paule war. Es gibt einige Anhaltspunkte, ich habe aber nur eine Vorstellung im Kopf. Vielleicht kannst Du mir da helfen?) Man rief Paul „Fauler Paule“ und faul war er auch. Paule war so faul, dass sogar Eichendorfs’ „Taugenichts“ sich respektvoll als Workaholic bezeichnet hätte, wäre er nicht nur ein Gespinst aus Frohsinn, Lustliebe und Drogengenuss des Romantikers.

Der faule Paule hatte solarbetriebene Rollen an der Rückseite seines Körpers befestigt, die ihn aufs Geratewohl durch die Welt kutschierten. Er lag nur auf den Rückenrollen und ließ sich von der Sonne treiben. Zu essen brauchte er nicht viel, weil er ja größtenteils aus Stoff und Wasserresten bestand, die sich nur langsam verflüchtigten.

Eines sonnigen nachmittags, als Paule aus ruhigen Träumen erwachte und sich in einem riesigen Haufen Gras wiederfand, beschloss er, einen Kindertraum Kindertraum sein zu lassen: Er beschloss nicht mehr wegen seiner Faulheit ins Guinnessbuch kommen zu wollen. Diesen Traum wollte er nun für alle Zeiten hinter sich lassen. Auf diesen erfrischenden Entschluss hin schlief er sofort wieder ein. Für solche Wettbewerbe – der Faulheit zu liebe – war er sich zu schade! Aus diesem Grund führt ihn jetzt auch das Guinnessbuch der Weltrekorde tatsächlich als faulstes Wesen aller Wesen.

So fristete der faule Paule seine Tage und frönte der Stille in den Nächten. Er schlief, schlief, schlief. Und kaum war er mal kurze Zeit wach, so übermannte ihn eine unsägliche Herzensschwäche.

Sinnliche Wahrnehmungen erschöpften ihn. Unsagbare Trägheit überwältigte ihn. Die Glieder und Augen wurden ihm schwer. Seine Gesichtsmuskeln entspannten sich bis zur Unkenntlichkeit seiner selbst.

Und er ließ dies alles gerne geschehen. Fiel nach wenigen Momenten des Bewusstseins wieder in den Schlaf. Den süßen Schlummer liebend. Denn: Schlaf war sein Leben. Traum war seine Realität. So trugen ihn seine solarbetriebenen Rollen mal hierhin und mal dorthin. Als er eines Frühjahrs in der Wüste erwachte, kam ihm ein wichtiger Gedanke. Die Sonne brannte, das Solarmobil war höchst aktiv und er wurde immer schneller und schneller. Sein Rollenzufallsgenerator ermöglichte ihm, dass er überall hinkommen konnte (eine schöne Vorstellung, die er auch gerne in seine halbwachen Tagträume einbaute). Beinahe meinte er sogar durch die Geschwindigkeit einen klitzekleinen Adrenalinstoß zu verspüren, welches ihn ein wenig über seinen Körper verwundert hätte, ihm jedoch schlussendlich – wie so vieles andere – ebenfalls doch nur Gelassenheit abverlangt hätte.

>> Keine Gleichgültigkeit – diese Unterscheidung war ihm wesentlich. Er konnte sich manchmal stundenlang mit unsäglichen Begriffen und ihrer inkorrekte Anwendung beschäftigen. Zu seinen meistgeführten inneren Diskursen – seiner multiplen ICHs – führte die Verwendung der Wörter: „Bewunderung“, wenn „Begeisterung“ passender gewesen wäre; „Ehre“ bzw. „Stolz“, wenn da doch „Freude“ war; der inflationäre Gebrauch des literarischen Begriffs „Seele“ und eben der Unterschied zwischen „Gleichgültigkeit“ und „Gelassenheit“. <<

Sein wichtiger Gedanke dabei war: Er wusste, dass seine Entscheidung, das Schicksal über ihn entscheiden zu lassen, richtig war.

So düste er adrenalinlos mal schneller, mal langsamer durch sein Leben. Ließ Wüsten, Wälder, Täler, Berge und Meere (er hatte eine Antiuntergehvorrichtung) hinter sich und wartete auf das größte Ereignis in seinem Leben, das ihm an einem der Dienstage, denen er schon seit jeher skeptisch gegenüber stand, passieren sollte. (Freitage waren ihm verständlicherweise genehmer.) Bislang konnte er sein Leben genießen, war doch nichts und niemand auf der Welt, das ihn aufhalten wollte. Doch das änderte sich, an einem der fürchterlichen Diensttage, als ihn eine kleine Süße erblickte, die an Liebesmangel – oder vielleicht sollte man besser „Beziehungssucht“ sagen – litt. Sie stellte Paules Motoren ab, machte etwas an den Solarrollen kaputt, weckte ihn dann auch noch auf und bittete ihn, um ihre Hand zu bitten. Paule – man kann es sich vorstellen – war nicht schlecht überrascht. Stand vor ihr und sah ihr bittersüß in die Augen. Die Augen einer liebreizenden, verheißungsvollen Schönheit.

Preist alle das, an was ihr glaubt, der faule Paule konnte den Schaden an seinen Rollen gleich reparieren und es war ihm möglich, dank seines Fachwissens, die Flucht zu ergreifen und weiter zu fahren. Aber machen wir uns nichts vor, ohne den geringsten Funken an Fachwissen und Bildung wäre ihm das nicht geglückt und das Ganze wäre nicht so glimpflich ausgegangen. Jaaaha! So düst er vielleicht auch heute noch fried- und freundlich durch alle Lande.

Die Moral von der Geschicht: „Kind, vergiss die Bildung nicht.“

Ach, liebe Anna. Ich merke gerade, diese Geschichte, die ich da von früher ausgegraben habe, mag gar nicht so recht in den Dialog mit Dir passen. Es ist hier wohl eher die Geschichte meiner Geschichte. Obwohl. Eigentlich auch nicht. Es ist einfach so, dass mir bisher immer 1.000 Bilder in den Kopf schießen, wenn Du schreibst. Heute war es der faule Paule...


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