Die Fehlleitung des berechtigten Zorns

Es ist eine unbequeme Wahrheit, die wir oft ignorieren, doch sie muss ausgesprochen werden: Die Wähler rechter Parteien haben im Kern Recht. Nicht in ihren inhaltlichen Schlussfolgerungen, die oft menschenfeindlich und destruktiv sind, sondern in ihrer fundamentalen Emotion. Sie spüren, dass sie betrogen werden. Sie spüren, dass der gesellschaftliche Vertrag, der Wohlstand und Sicherheit versprach, einseitig aufgekündigt wurde. Doch während ihre Wut legitim ist, ist ihr Ziel fatal falsch gewählt. Wir werden nicht von Geflüchteten, Minderheiten oder Klimaaktivisten bedroht, sondern von einer ökonomischen Elite, die sich der solidarischen Verantwortung entzogen hat.

Die Anatomie der ökonomischen Asymmetrie

Ein Blick auf die Fakten offenbart das Ausmaß der Schieflage. Wir leben in einem System, in dem Leistung und Ertrag entkoppelt wurden – jedoch nicht zugunsten der Arbeitnehmenden.

  • Die Lohnschere: Während in den späten 1980er Jahren ein DAX-Vorstand durchschnittlich das 15-fache seiner Angestellten verdiente, hatte sich dieser Faktor bis 2017 bereits auf das 71-fache erhöht. In den USA sehen wir noch groteskere Dimensionen, die das 330-fache übersteigen.
  • Vermögenskonzentration: Noch drastischer ist die Ungleichheit beim Besitz. Bereits 1998 besaßen die reichsten 10 % der Deutschen 44 % des Gesamtvermögens. Heute kontrollieren sie über 54 %, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung – also 50 % der Menschen in diesem Land – gemeinsam über kaum mehr als 2 % verfügen.

Der Neoliberalismus als Erosionsbeschleuniger

Diese Entwicklung ist kein Naturgesetz, sondern das Resultat politischer Weichenstellungen, die wir unter dem Begriff Neoliberalismus zusammenfassen. Initiert durch Figuren wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher, wurde uns eine Ideologie verkauft, die den Staat nicht als Lösung, sondern als Problem diffamiert. Die Konsequenz war eine systematische Aushöhlung des Gemeinwesens:

  • Privatisierung öffentlicher Güter (Wohnraum, Infrastruktur).
  • Deregulierung der Finanzmärkte.
  • Ein Steuersystem, das Arbeit bestraft und Kapitalvermögen schont.

Das Mantra der "Freiheit" diente hierbei als Hacking-Tool gegen die Demokratie. Es suggeriert, dass jede staatliche Umverteilung ein unzulässiger Zwang sei, und legitimiert so den Rückzug der Profiteure aus der Solidargemeinschaft. Wenn Superreiche durch Kreditaufnahmen gegen Aktienvermögen ("Buy, Borrow, Die") faktisch steuerfrei leben, während der Durchschnittsbürger die volle Last der Staatsfinanzierung trägt, ist das System obszön geworden.

Die Strategie der Ablenkung

Hier schließt sich der Kreis zum Rechtsruck. In dem Moment, in dem die Folgen dieser Politik spürbar werden – marode Schulen, stagnierende Löhne, kollabierende Infrastruktur –, bieten rechte Demagogen ein simples Ventil an. Statt die komplexen Mechanismen der Kapitalakkumulation zu hinterfragen, wird der Zorn auf die Schwächsten der Gesellschaft umgelenkt. Der Rassismus fungiert hierbei als Nebelkerze. Er erlaubt es dem wütenden Bürger, sich mächtig zu fühlen, indem er nach unten tritt, anstatt nach oben zu schauen. Es ist ein klassisches "Teile und Herrsche": Man lässt die Verlierer des Systems gegeneinander kämpfen, damit die Gewinner ungestört ihre Gewinne privatisieren können.

Der Weg zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit

Um diesem fatalen Kreislauf zu entkommen, müssen wir aufhören, uns von kulturellen Scheindebatten ablenken zu lassen, und die ökonomische Realität adressieren. Es bedarf konkreter Maßnahmen:

  1. Wiedereinführung der Vermögenssteuer: Eine moderate Abgabe von 1-2 % auf immense Vermögen würde niemanden in die Armut treiben, aber dem Staat die Mittel geben, die zerstörte Infrastruktur zu sanieren.
  2. Eine effektive Erbschaftssteuer: Wir müssen aufhören, dynastischen Reichtum zu subventionieren. Es geht nicht um das Einfamilienhaus der Großmutter (dafür gibt es Freibeträge), sondern um Milliardenvermögen, die leistungslos weitergereicht werden und feudale Strukturen zementieren.

Wir müssen das "Wir" neu definieren. Nicht als ethnische Gemeinschaft, sondern als Solidargemeinschaft all jener, die in dieses System investieren – sei es durch Arbeit, Engagement oder Steuern. Unsere Gegner sind nicht die Schutzsuchenden, sondern jene, die sich aus der Verantwortung gestohlen haben.