Leere Kommentarfelder provozieren!
Heute morgen, habe ich die Zeitung aufgeschlagen. Nein. Dieser Satz ist nicht ganz richtig. Ich habe eine Nachrichten-App aufgerufen. Die Überraschung: Deutschland ist für die digitale Kulturrevolution nicht gerüstet. Scheint, als ob die Nachrichten-App mir wie „Googlzon“ vor allem die Dinge anbietet, die mich wirklich gerade interessieren. Beeindruckend. Vor einigen Stunden, also gestern Nacht hatte ich noch bis um 3.45 Uhr mit Freunden (wirkliche Freunde, keine Follower oder so) über den digitalen Wandel diskutiert. Eigentlich haben wir aber noch mehr über die weit verbreiteten Ängste und Hemmungen gesprochen, welche durch die Digitalisierung geweckt werden. Zusammengefunden hatten sich folgende Haltungen:
- Leugnen: Der Schock und das Nicht-wahr-haben-wollen der aktuellen digitalen Situation auf der Welt und in Deutschland.
- Intensiv aufbrechende Emotionen: Die Wut über dreiste Online-Konzernwölfe. Die nackte Angst vor fahrlässigen Normalbürger-Lämmern. Depressiv resignierte Stimmung, wenn an das Ungleichgewicht des rasanten technischen Fortschritts auf der einen und des fußlahmen ethischen Fortschritts auf der anderen Seite gedacht wird.
- Suchen, Finden, Loslassen: Das Suchen nach Lösungen in der guten alten Zeit und die Aussöhnung mit dem Gendanken, dass diese nun endgültig vorbei sind. Das Finden der Auswege unserer Tage. Das Loslassen alter Tage.
- Akzeptanz: Es dann auch die „produktive Aufbruch-Stimmung“. Die Katharsis durch das Zulassen euphorischer Zukunftsperspektiven. Sich den widrigen Umständen fügen, die Realität akzeptieren. Im Schlimmsten einen Neuanfang sehen. Die Goldgräberstimmung, die entsteht, wenn man denkt, was noch keiner zuvor gedacht. Wenn man macht, was keiner zuvor gemacht. Wenn man gewinnt, was noch keiner davor gewonnen hat. Kurz: Silicon Valley saß auch mit am Tisch. Und natürlich ohne Krawatte. Locker. Anzüge wollen nur über schlechte Produkte hinwegtäuschen.
Eigentlich saßen alle vier Phasen der Trauer nach Verena Kast am Tisch. Was wurde zu Grabe getragen? Das Grundgesetz. Die digitalen Möglichkeiten. Die eigene Vergangenheit. Am Ende blieb für mich eine Frage hängen: Wer profitiert eigentlich von unseren Ängsten und Hemmungen? Bin am Ende des Artikels über das digitale Deutschland angelangt. Bin überzeugt, dass die Roboter und der Babelfisch kommen werden. Smart-Shirts und smarte Kontaktlinsen werden eine Veränderung der Welt bewirken werden, von der Deutschland vor allem als Konsument profitiert. Ausnahmsweise lese ich die Kommentare. Hier haben sich die apokalyptischen Reiter versammelt: Erstens: Weißes Pferd. Reiter. Sieg. Krone. – Sie kennen das. Hier verkörpert durch den Moralapostel, der den Bildungsjoker gleich am Anfang zieht: „Kann denn nicht wenigstens einmal jemand an die Kinder denken?“ Ungewöhnlich. Meist hören Debatten mit dieser Forderung auf.
Der zweite Reiter: Resignierter Gegner. Gegner gegen alles. Er steht für den Krieg bzw. in Deutschland für Rüstungsexporte. Oder dagegen? Unklar. Jedenfalls die alternativlose Alternative zur Friedenssicherung mit Augenmaß, um den ganzen Sozialtourismus zu bezahlen. Profit findet er geschmacklos. Er ist gehemmt durch verborgene Ängste, aber er ist auch der Eisbrecher für zahllose Emotionsgesteuerte. Die Drohnen seines Betriebs fliegen für einen guten Zweck. Er widerspricht sich innerhalb seiner 160 Zeichen dreimal. Aber Selbstwidersprüche können auch als ein Zeichen gewertet werden, dass man die Welt um sich herum verstanden hat. Mit feuerrot erhitztem Kopf fuchtelt er mit dem mehrschneidigen Schwert des Wortes herum. Beim Lesen des Antikriegs-Kommentars werden eingefleischte Pazifisten unmittelbar zu Kriegsbefürwortern.
Drei: Ein kritischer Wutbürger, der sich über Inkompetenz schwarz ärgert und Gerechtigkeit fordert; in einer Welt, die von Todsünden verseucht ist. Seine Zielscheiben: Hochmütige Regierung, geizige Aktionäre und Banken, wollüstige Prominente, andere Wutbürger, die Maßlosigkeit der schmierigen Daten-Phishing-Kraken-Konzerne, neidische Nerv-Staaten und vor allem die faule Lügenpresse. Seine Waage, sein Schlachtfeld bzw. seine Protestform: ein Kommentarfeld. Sein Pseudonym: „Eisbärchen“
Der sarkastische Intellektuelle. Stilistisch besser als der obige Artikel. Nicht so fahl. Nicht so trüb. Nicht so blass. Bissig. Vernichtend. Terrier. (Also Bullterrier. Nicht die kleinen süßen Jack Russell). Kulturwandel. Prozessmusterwechsel. Um was ging es im Artikel nochmal?
Ein fader Geschmack verbleibt im Mund. Furcht. Angst. Lähmung. Lauter Leute mit schlechter Laune. Alle Wut will Ewigkeit –, will tiefe, tiefe Ewigkeit (nach Nietzsche, Also sprach Zarathustra). Ich wünsch mir einen fünften Reiter herbei, der einen Witz erzählt. Aber es kommen immer neue Kommentare rein, die sich die radikale Sinnentleerung des Netzwerktages zum Ziel gesetzt haben und einen Post am anderen ins digitale Nirwana feuern. USA steht für undemokratische Silicon-Valley Alternativen. Deutschland hat nicht nur keine Chance mehr, Deutschland ist die Chancenlosigkeit in Person. Leute reden einander klein, ziehen eine Show ab, wollen selbst gut dastehen, halten sich an keine Regeln, erzielen keine Ergebnisse. Der Vergleich des Online-Kommentarfeldes mit einer TV-Talk-Show liegt auf der Hand. Das nach unten scrollen hat sich gelohnt. Jedenfalls frage ich mich gerade nicht mehr: Warum gibt es die Gen Y? Meine Wenigkeit, als Generation X bzw. Generation Golf (oder erster apokalyptischer Reiter) lehnt sich zurück und sieht sich gemütlich an, wie sich Y über die Nachgeborenen Z aufregt. Digital Natives, die mehr auf Außendarstellung, als auf Sinn aus sind. Was kommt eigentlich nach Z? Umlaute? 0 oder 1? Das würde vermutlich das M2M Zeitalter, die „Machine to Machine Generation“ gut beschreiben. Menschen sind für die Bezeichnung der Generation nicht mehr relevant. Eine goldene Vorstellung in meinen Augen, da es bereits Mittag ist und ich immer noch an den Artikel und die Fußzeilen-Kommentare denke. Warum ich das schreibe? Ich bin der fünfte Reiter. Ich erzähle den Witz. Ich male das Bild von der konkreten Zukunft – so wie sie sein könnte. Hier in Deutschland. Wie wir die Grundrechte nicht verwässern. Wie wir Wissen neu denken. Wie wir Ängste überwinden. Wie wir produktiv mit den digitalen Möglichkeiten umgehen. Wenn Sie diesen Witz hören wollen, dann sind sie hier genau richtig. Wie alle apokalyptischen Reiter verbreite aber auch ich Furcht und Schrecken. Vor allem, wenn ihnen Willy Brandts „mehr Demokratie wagen“ seit 1969 immer wieder kurz einen Schauer über den Rücken jagt.
Joblin: Für meinen Freund U.G.