Diskussion:"Jeder Mensch ist Kunst. Du bist Kunst. Joseph Beuys und die Unmöglichkeit des Menschen keine Kunst zu sein." Zusammenfassung
„Jeder Mensch ist Kunst.“ Joseph Beuys’ erweiterter Kunstbegriff im Spiegel ästhetischer Theorie
Abstract
Der Beitrag untersucht den beuysschen Kerngedanken „Jeder Mensch ist Kunst“ im Lichte kunst- und erkenntnistheoretischer Positionen. Er zeigt, wie der erweiterte Kunstbegriff (Soziale Plastik) die Grenze zwischen Werk, Autor:in, Publikum und Gesellschaft verschiebt, ordnet ihn systematisch bei Danto und Dickie ein, vermittelt ihn mit kantischer Geschmacksästhetik und gademerscher Hermeneutik und diskutiert ihn vor dem Hintergrund relationaler Ästhetik (Bourriaud) sowie deren Kritik (Bishop). Als Fallbeispiel dient »7000 Eichen« (Kassel, 1982–87). Der Aufsatz plädiert für eine normativ-realistische Lesart: ästhetische Demokratie als gemeinsame Formarbeit an sozialen Verhältnissen.
1. Ausgangspunkt: Beuys’ Setzung
Beuys formuliert die berühmte These „Jeder Mensch ist Künstler“ als programmatische Zuspitzung einer radikalen Erweiterung von Kunst: Kreativität als anthropologische Grundkompetenz, die sich nicht auf Artefakte beschränkt, sondern auf Denk-, Kommunikations- und Gestaltungsprozesse. Autor:innenschaft wird potentiell universal, Kunst wird als soziale Formarbeit verstehbar (vgl. [1]).
2. Begriffliche Präzisierung: Erweiterter Kunstbegriff und Soziale Plastik
„Soziale Plastik“ bezeichnet die Auffassung, dass gesellschaftliche Prozesse selbst als formbare „Plastik“ zu begreifen sind. Nicht der Objektstatus entscheidet, sondern die prozessuale, kollektive Hervorbringung und Transformation von Sinn, Handlungsräumen und Institutionen. Damit verschiebt sich Kunst von der Objektproduktion zur Praxis sozialer Ko-Konstitution (vgl. [1], [2]).
3. Systematische Verortung in der Ästhetik
3.1 Dantos „Artworld“
Danto zeigt, dass Kunststatus an Deutungskontexte und theoretische Rahmungen gebunden ist, nicht an rein sinnliche Eigenschaften. Beuys radikalisiert diese Einsicht, indem er die „Artworld“ ausweitet: Kunst als theoretisch und sozial verfasster Praxisraum, in dem gesellschaftliche Prozesse selbst Kunstcharakter annehmen können (vgl. [3]).
3.2 Dickies institutionelle Theorie
Dickie versteht „Kunst“ als den von Institutionen verliehenen Status eines Wertschätzungs-Kandidaten. Der beuyssche Impuls verschiebt nicht die Notwendigkeit von Institutionen, sondern deren Rolle: weg vom Gatekeeping, hin zur Öffnung partizipativer Felder (Schule, Museum, Stadt, Zivilgesellschaft), in denen viele Akteur:innen am Kunststatus mitwirken (vgl. [4], [5]).
3.3 Kant: Geschmack, Zweckmäßigkeit ohne Zweck, Genie
Kant liefert die Grundarchitektur ästhetischer Urteile (interesseloses Wohlgefallen, Anspruch auf Allgemeingültigkeit) und des Geniebegriffs. Für Beuys bleibt diese Reflexionsstruktur relevant; zugleich erweitert er den Fokus vom kontemplativen Urteil über ein Werk zur kollektiven Praxis, in der Bedeutungen und Formen sozial ko-produziert werden (vgl. [6], [7]).
3.4 Gadamer: Kunst als Ereignis gemeinsamer Sinnbildung
Gadamer deutet Kunst als „Spiel“, „Symbol“ und „Fest“ – als Ereignisse, in denen Welt- und Selbstverständigung gemeinschaftlich stattfinden. Beuys’ Sozialplastik lässt sich hier als performative Fortsetzung lesen: Kunst ist weniger Gegenstand als Vollzug; sie geschieht, wo sich Praxisräume der Mitwirkung öffnen (vgl. [8], [9]).
4. Empirische Illustration: »7000 Eichen« (1982–87)
Das Kasseler Langzeitprojekt koppelt ökologische, städtebauliche und soziale Dimension: 7.000 Bäume, jeweils mit einer Basaltstele gepaart, verteilen sich über die Stadt. Das Werk operiert als Zeit-Plastik (Wachstum), als räumliche Markierung (Stele) und als sozialer Prozess (Beteiligung, Finanzierung, Pflege). Hier wird die These „Jeder Mensch ist Kunst“ als kollektive, dauerhafte Formarbeit in die Stadt eingeschrieben (vgl. [2], [10], [11]).
5. Relationale Ästhetik und Kritik
Bourriaud versteht zeitgenössische Kunst als Hervorbringen von „Beziehungs-Situationen“, in denen Begegnung und Interaktion selbst zum ästhetischen Material werden. Die Anschlussfähigkeit an Beuys ist offenkundig. Bishop kritisiert jedoch die Tendenz zur Harmonisierung: Ohne Antagonismus droht „Relation“ politisch zahnlos zu werden. Für eine belastbare Beuys-Rezeption folgt daraus: Soziale Plastik muss Dissens, Macht- und Konfliktanalysen integrieren; erst dort wird ästhetische Demokratie realistisch (vgl. [12], [13]).
6. Argumentation in Thesenform
- **Anthropologische Kreativitätsthese:** Menschen verfügen qua Sprache, Imagination und Handlung über originäre Gestaltungskompetenz. Beuys’ Satz erhebt diese Potenz zur normativen Setzung künstlerischer Verantwortung (vgl. [1]).
- **Praxeologische Erweiterung:** Kunst umfasst Prozesse der Sinn- und Institutionsbildung; nicht nur Werke, sondern Praktiken und Arrangements werden formbar (vgl. [1], [2]).
- **Hermeneutische Konsequenz:** Kunst ist ein Ereignis gemeinsamer Sinnbildung (Gadamer). Beuys verschiebt den Akzent vom Urteil zur Mit-Vollzugspraxis (vgl. [8], [9]).
- **Institutionelle Relokation:** Danto/Dickie bleiben gültig, aber werden demokratisiert: Institutionen als Ermöglichungs- statt Ausschlussapparate (vgl. [3], [4], [5]).
- **Politische Realismen:** Relationalität ohne Konflikt bleibt blind. Eine realistische Sozialplastik akzeptiert Antagonismen als produktive Energien (vgl. [12], [13]).
7. Einwände und Antworten
- **Leerformel-Einwand:** „Alle sind Künstler:innen“ klingt inhaltsarm. – Antwort: Konkrete Projekte (»7000 Eichen«) zeigen überprüfbare ökologische, soziale und räumliche Effekte; der Satz gewinnt performativen Gehalt erst im Vollzug (vgl. [2], [10], [11]).
- **Institutions- und Machtblindheit:** Demokratisierung kann Ungleichheiten überdecken. – Antwort: Integration antagonismustheoretischer Kritik (Bishop) als Korrektiv; Sozialplastik muss konflikt- und machtanalytisch sensibel sein (vgl. [13]).
- **Werkverlust-Sorge:** Ersetzt Praxis das Werk? – Antwort: Nicht Substitution, sondern Erweiterung; Artefakte bleiben, erhalten aber ihren Sinn im Geflecht der sozialen Formarbeit (vgl. [3], [8]).
8. Schluss: Ästhetische Demokratie als Formarbeit
„Jeder Mensch ist Kunst“ ist keine bloße Metapher, sondern ein Programm ästhetischer Demokratie: Menschen sind fähig und verantwortlich, Welt gemeinsam zu formen. Danto und Dickie klären die Bedingungen, Kant die Reflexivität des Urteilens, Gadamer die Ereignishaftigkeit des Verstehens. Mit Bourriaud (und gegen die Harmoniefalle, vgl. Bishop) entsteht ein tragfähiger Rahmen, in dem Beuys’ Setzung als normative Praxisform lesbar wird: Kunst als kooperative Arbeit an den Bedingungen des Zusammenlebens – konfliktsensibel, institutionell geöffnet und empirisch überprüfbar.